Interview mit Matthias Roth, Chefredakteur des Fernsehmagazins »rtv«

Das Gespräch mit Matthias Roth fand am 18. März 2013 in den Räumen der rtv-Redaktion in Nürnberg statt. Die Fragen stellten Margit Fischbach (MF) und Karl-Friedrich Fischbach (KFF) für den Seniorentreff im Internet.



Teil I: Zur Geschichte von rtv
 
MF:
Wir freuen uns, dass Sie als Chefredakteur von rtv dem Seniorentreff für ein Interview zur Verfügung stehen. Soweit ich mich zurück erinnern kann, ist rtw bzw. rtv schon immer als Zeitungsbeilage für das Radio- und Fernsehprogramm dabei gewesen.
 
Matthias Roth:
Die Zeitschrift wurde als rtw (Radio-Television-Wochenbeilage) gegründet und 1965 in rtv (Radio und Television) umbenannt. Gegründet wurde sie 1961, so dass wir 2011 das 50-jährige Jubiläum im Rahmen einer großen Gala feiern konnten - mit Preisverleihungen an Fernsehschaffende. Wir sind ein bisschen stolz, mit diesem Medium inzwischen über 50 Jahre von den Leserinnen und Lesern geschätzt zu werden.
Alles begann mit einer Idee von Hannsheinz Porst, der in einem kleinen Geniestreich ein neues Genre, das TV-Supplement (die Programmbeilage) in Deutschland einführte. Zu dieser Zeit gab es bereits Pläne für ein zweites Fernsehprogramm und man wollte, bei dieser "gigantischen" Programmauswahl eine Übersicht bieten. Wobei damals natürlich, wie das r im Namen sagt, das Radio eine große Rolle spielte.
 
MF:
In meiner Kindheit lag rtv neben dem Radio ...
 
Matthias Roth:
Das Radio spielte anfangs in der deutschen Programmpresse eine große Rolle, in rtv steht ja das r für "Radio", aber auch die Titel der traditionellen Kiosktitel "Gong" und "Hörzu" leiten sich von diesem Medium ab.
 
MF:
Seit wann fehlt das Radioprogramm bei rtv?
 
Matthias Roth:
Seit 1995. Paradoxerweise mit meinem Anfang bei rtv, weil ich früher als Redakteur der "Gong" hauptsächlich für das Radioprogramm zuständig war. Und ich habe bis heute eine kleine Leidenschaft für den Hörfunk. In rtv können wir Radioprogramme angesichts des großen, regional aufgesplitteten Angebots leider nicht mehr abdrucken, aber es befindet sich bei rtv.de.
 
MF:
Welche Entwicklung nahm die Fernsehzeitung?
 
Matthias Roth:
Am Anfang war sie eher ein unterhaltendes Medium. Es gab Themen, die nicht immer auf Radio und Fernsehen zugeschnitten waren, eher im Stil des Wochenendteils einer Tageszeitung. Um die Programme herum gab es viel Luft und umfangreiche Mantelbeiträge wie z.B. auch einen Fortsetzungsroman. Heute fokussieren wir uns auf Fernsehen und Entertainment. Wir wollen nicht in den Themenbereichen unserer Trägerzeitungen wildern.

MF:
Das heißt, die Inhalte von rtv haben sich gewandelt?
 
Matthias Roth:
Ja, früher waren die Themen breiter gestreut, sie waren unterhaltender und sicher auch kulturlastiger, gerade mit dem Radio, das die klassische Musik und Wortbeiträge als Schwerpunkt hatte. Heute berichten wir umfassend über TV-Filme und Unterhaltungssendungen. Wir sehen die Sendungen vorab, sprechen mit TV-Schaffenden, interviewen Schauspielerinnen und Schauspieler.
 
MF:
Welche Rolle spielte die Deutsche Einheit für rtv?
 
Matthias Roth: Da war ein neuer Markt da. Wir haben bis heute zwei getrennte Ausgaben rtv-West und rtv-Ost, die beide in Nürnberg hergestellt werden. Redaktionell sind die Unterschiede nicht groß, das ist auch nach 20 Jahren deutscher Einheit nicht mehr notwendig, da sind die beiden Teile gottlob zusammengewachsen, der Anzeigenmarkt ist aber teilweise noch unterschiedlich.
 
MF:
Inwiefern gibt es da Unterschiede?
 
Matthias Roth:
Ein Beispiel: Im Rahmen der Ostalgiewelle gibt es Bücher und CDs mit einschlägigen Themen, die im Westen kaum gefragt sind, in den neuen Bundesländern aber rennen. Da ist bei der Anzeigenbelegung eine differenzierte Belegungsmöglichkeit natürlich sinnvoll. Die gibt es aber selbstverständlich auch nach Nielsen-Gebieten. Nach der Wiedervereinigung wurde noch lange der Programmteil für die ehemalige DDR-Fernsehzeitung FF dabei in Nürnberg, der Mantelteil in Berlin erstellt. Der Einheit verdankte ich übrigens damals meine Einstellung bei Gong für die damals neue Super TV, einer Fernsehzeitung speziell für den Osten. Es war eine total spannende Zeit, wie auch eine kleine Anekdote um rtv zeigt. Kurz nach der Grenzöffnung hatten sich Geschäftemacher auf dunklen Kanälen kartonweise rtv-Zeitschriften in großer Auflage organisiert und an U-Bahnhöfen verkauft. Dieser Spuk war dann nach kurzer Zeit vorbei, zeigt aber, wie hoch der Wert von rtv eingeschätzt wurde.
 
MF:
rtv hat die deutschen Haushalte mehr als 50 Jahre begleitet und war stets eine feste Größe bei der Zusammenstellung des Fernsehprogramms. Was unterscheidet die Leser von 1961 hinsichtlich ihrer Fernseh- und Konsumgewohnheiten von den heutigen?
 
Matthias Roth:
Es hat eine rasante Entwicklung stattgefunden. Fernsehen ist heute zwar ein bedeutendes, aber nicht mehr das Leitmedium, sondern eines von mehreren Medien, die heute genutzt werden. Das macht den Hauptunterschied zu früher aus. Junge Leute benutzen inzwischen mehrere Medien gleichzeitig: der Fernseher läuft stumm, das Radio laut, das Smartphone ist an und damit oder dem Rechner wird gechattet.
 
MF:
Haben sich die Konsumgewohnheiten verändert?
 
Matthias Roth:
Früher war der Fernsehkonsum viel zielgerichteter. Da hat die Familie gemeinsam beschlossen, was im Fernsehen geguckt wurde, und das dann auch fraglos von vorn bis hinten angesehen. Durch die Fernbedienung hat dieses Verhalten einen volatilen Charakter bekommen, man zappt sich durch und schaut mal, was kommt. Aber durch unsere Marktforschung wissen wir, dass eine überraschend große Gruppe, die „Leuchtstift-Fraktion“ wie ich sie respektvoll nenne, zielgerichtet fernsieht, indem sie rtv liest und interessante Sendungen markiert.


Teil II: Wie ergänzen sich die Print- und die Online-Version
 
KFF:
Wann kam die Netzversion dazu und wie ist die Arbeitsteilung zwischen den Medien?
 
Matthias Roth:
In den Jahren 1997/98. Vom Fokus her unterschiedlich, sind On- und Offline Version doch gut vernetzt. So sitzen die Redaktionen in einem Raum. Früher gab es eine eigene, inhaltlich abgetrennte Online-Ecke im Heft, heute wird fast jedes Thema online verlängert. Die Medien ergänzen sich und bieten Lesern und Anzeigenkunden umfassende Möglichkeiten.

KFF:
Virtual Reality spielt gerade auch bei den Apps eine zunehmend wichtige Rolle. Können Sie sich vorstellen, dass Sie im Printmedium Virtual Reality Links einbauen, so dass eventuell Filme etc. im Handy abgespielt werden können?
 
Matthias Roth:
Wir machen das nur in Maßen und nur dann, wenn wirklich ein sinnvoller zusätzlicher Nutzwert dahinter steht. So bieten wir demnächst Trailer zu Filmen an. Auch im Anzeigenbereich ergeben sich neue Möglichkeiten. Wenn z. B. ein Auto in der Printanzeige dargestellt wird und man mittels  Augmented Reality in den Wagen rein sehen und sich darin umschauen kann, ist dies eine faszinierende Möglichkeit. Ich möchte aber keine Spielerei, sondern immer eine Orientierung am Nutzwert. Und da bleibt im Programmbereich Print unschlagbar. Diese Übersichtlichkeit gibt es nur dort.
 
MF:
Wie unterscheiden sich die Zielgruppen, die Leser und die Internetbesucher?
 

Matthias Roth:
Die beiden Gruppen unterscheiden sich deutlich. Mehr, als wir es uns vielleicht wünschen würden: Wir haben ein Riesenpotential von fast 13 Mio. Lesern. Wenn davon nur 10% rtv.de nutzen würden, wäre das eine stattliche Zahl. Aber User und Leser divergieren immer noch. Jetzt haben wir durch die Erwerbung von tvtv.de die Möglichkeit, rtv.de und rtv Print näher aneinander heranzuführen und den Jüngeren mit tvtv.de ein für sie optimales Online-Angebot zu unterbreiten.
 
MF:
Beeinflussen sich beide Bereiche gegenseitig?
 
Matthias Roth:
Ja, „Print pushs online“ -  da wir im Heft viele Hinweise auf die online-Version haben, profitiert rtv.de von der gedruckten Form. So war unsere Online-Aktion „rtv-Titelgirl“ natürlich auch deswegen so erfolgreich, weil die Gewinnerin auf dem Print-Titel abgebildet und damit von fast 13 Millionen Leserinnen und Lesern gesehen wurde. Bei unserer Aktion „Miss 50plus Germany“ dagegen haben sich beide Bereiche gegenseitig gepusht. Wir haben die Klaviatur beider Bereiche optimal gespielt und so einen außerordentlich großen crossmedialen Erfolg erzielt.
 
MF:
Welche Bedeutung hat die Übernahme tvtv.de für Sie?
 
Matthias Roth: Wir haben eine riesige Relevanz in Print, die sich bisher nicht einfach auf das Netz übertragen ließ. Deshalb haben wir uns für den Online-Bereich Relevanz dazu gekauft, um Werbungstreibenden ein rundes Angebot machen zu können. Inhaltlich richtet sich tvtv.de eher an eine jüngere, männliche Zielgruppe, so dass wir nun unser rtv.de-Portal verstärkt auf den älteren Nutzer ausrichten können.


Teil III: rtv im Wandel
 
KFF:
Ich erinnere mich an Überlegungen, das Internet über das Fernsehen anzubieten.  Inzwischen sehen wir über die Rechner fern. Wie sehen Sie die Zukunft des Programm-Fernsehens im Vergleich zu Video on Demand?
 
Matthias Roth:
Durch die Neuentwicklung von Video-on-Demand wird lineares Fernsehen in Frage gestellt. Der Zuschauer hat die freie Entscheidung, was, wann und wo er fernsieht. Lineares Fernsehen wird ein Stück vom Kuchen abgeben müssen.
 
MF:
Wie kommt rtv zurecht mit Video-on-Demand?
 
Matthias Roth:
Wir arbeiten intensiv an neuen Konzepten. Fernsehen ist im Umbruch, damit wird auch die Idee einer Programmzeitschrift erstmal in Frage gestellt. Aber das, was wir im Heft machen, nämlich den Menschen Orientierung geben, wird weiter gefragt sein. Wir bieten ja auch Informationen, die von einer zeitlich fest definierten Ausstrahlung unabhängig sind: Inhalt der Sendung, Schauspieler, Hintergrund der Produktion, Einordnung, Bewertung, Empfehlung, Abraten. Das glauben wir auf neue Anforderungen übertragen zu können. Gerade auch mit der neuen Möglichkeit individueller, personalisierter Profile, die das Internet ermöglicht und an denen wir, in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut, intensiv arbeiten, können wir weiterhin zielgenaue Orientierung geben. Und die wird vielleicht künftig noch mehr gefragt sein als heute.

MF:
Wir haben gelesen, dass rtv ein Archiv mit allen gesendeten Fernsehfilmen unterhält?
 
Matthias Roth:
Gelegentlich ruft sogar die Kripo bei uns  an, um ein Alibi zu überprüfen. Wir gehören zu den wenigen, die Auskunft geben können, auch über Sendungen, die Jahre zurück liegen. In unserer Datenbank lässt sich feststellen, ob die Ausstrahlung einer Sendung tatsächlich stattgefunden hat und nicht nur geplant war. Bildmaterial, das uns die Sender für die Veröffentlichung zur Verfügung stellen, muss nach einer gewissen Zeit gelöscht werden, andere, selbst erstellte Informationen bleiben jedoch in unserem Archiv und können zu Wiederholungen von Sendungen wieder abgerufen werden.
 
MF:
„Alles fließt“ wussten schon die alten Griechen. Wie gehen Sie mit dem Wunsch älterer Nutzer um, möglichst nichts zu verändern, obwohl Veränderungen notwendig sind, um zu bestehen?
 
Matthias Roth:
Dies ist ein ganz großes Thema bei uns, radikale und leicht erkennbare Veränderungen werden überwiegend abgelehnt. Trotzdem besteht zwischen rtv von 2006 und heute ein sehr großer Unterschied. Von unseren Lesern wurde kaum bemerkt, wie und wann sich dieser Wandel vollzogen hat, weil er immer durch feine Veränderungen unter dem unmittelbaren Wahrnehmungsradar erreicht wurde. Ich persönlich würde gern den senkrechten blauen Balken auf der Titelseite herausnehmen, um mehr Gestaltungsspielraum zu haben, doch die Marktforschung zeigt, dass - wider Erwarten - gerade die jüngeren Leser stärker als die älteren daran festhalten wollen. Der Wunsch, vertraute Strukturen beizubehalten liegt nicht am Alter, sondern generell an unseren Lesern.
 
MF:
Fernsehen „synchronisiert“ die Menschen und Gesprächsthemen nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher, ich denke da an Stahlnetz oder Derrick ...
 
Matthias Roth:
Das Fernsehen hat heute immer noch die Chance der Lagerfeuerthematik: gemeinsam sitzt man um den Fernseher. Bei der Papstwahl etwa spielte das Fernsehen doch wieder eine Rolle als Leitmedium, gleichzeitig schafft es aber auch selbst Ereignisse und Themen wie „Wetten, dass“, „Dschungelcamp“ oder „Germany’s Next Topmodel“, die zur Zeit ihres Ausstrahlungstermins durchaus Gesprächsthemen bieten, Sendungen, die man genau an diesem Abend gesehen haben muss, um am nächsten Tag mitreden zu können.
 
MF:
Das Fernsehen trifft also das Lebensgefühl einer Generation?
 
Matthias Roth:
Und mehr. Nehmen wir die aktuelle Sendung „Unsere Mütter, unsere Väter“. Hier zeigt das Fernsehen, was es kann. Es führte mit dem Spielfilm, der darauf folgenden Dokumentation und anschließender Diskussion Menschen an Themen heran, die nicht gerade gefällig sind. Kinder, Eltern und Großeltern sahen diesen Film gemeinsam – ein Fernsehereignis im besten Sinne.
 
MF:
Welche Bedeutung messen Sie einer Kooperation mit sozialen Netzwerken bei?
 
Matthias Roth:
Diesem Thema kann man sich nicht entziehen. Viele bewegen sich darin aber irrlichternd wie anfangs im Internet. Jeder sagt, ich muss dabei sein, oft gibt es aber keine Antwort, warum: Soll das dem Marketing dienen? Oder ist es ein verlängertes redaktionelles Instrument?
Wir nutzen unsere Facebook-Präsenz, um mit unseren Lesern bzw. Usern in Dialog zu gehen oder eine Diskussion zu entfachen, Stichwort "Second Screen". Die Orientierung, die wir im Printmedium geben, lässt sich natürlich auch in ein soziales Netzwerk übertragen, in der Art, dass wir auf eine Sendung hinweisen und mit einer begründeten Bewertung eine Diskussion anstoßen und uns dann aber zurücknehmen und nicht mehr eingreifen. Aufregend ist für uns Journalisten, dass wir online unmittelbares Feedback erhalten.


Teil IV: Zum Unternehmen
 
MF:
Wie kann man sich die Zugehörigkeit von rtv zur Bertelsmann–Gruppe vorstellen?
 
Matthias Roth:
Bertelsmann lehrt und lebt Dezentralität, die Eigenverantwortlichkeit jeder Firma, ja jedes Mitarbeiters. Das passt zu uns. Innerhalb Bertelsmanns sind wir beim Dienstleistungsbereich Arvato angesiedelt. Auch das passt: Wir verstehen uns auch als Dienstleister – für Tageszeitungen, Anzeigenkunden und ganz besonders für Leser, denen wir das Leben ein kleines Stück erleichtern wollen.
 
KFF:
Wie finanziert sich rtv?
 
Matthias Roth:
Die Leser schätzen unsere Qualität und die Tageszeitungen zahlen deshalb etwas dafür, mit Abstand erfolgt der Großteil der Finanzierung aber über Werbung.

Teil V: Persönliche Fragen
 
MF:
In der neuen Ausgabe von viva! dem Magazin für Fortgeschrittene aus der stern-Redaktion werden bekannte Persönlichkeiten vorgestellt, die dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiern. Die Autorin des Artikels macht folgende Aussage: „Wer heute ein halbes Jahrhundert alt wird, für den beginnt die große Freiheit. Es wird Zeit, unvernünftig zu werden.“ Was halten sie von diesem Statement?
 
Matthias Roth:
Nachdem ich ja auch zu dieser Personengruppe zähle ... die große Freiheit, nein, aber eine neugewonnene Freiheit auf jeden Fall, mit Vorteilen und Nachteilen. Heute hat man zum Beispiel die Arbeitsplatzsicherheit verloren, in deren Genuss noch die Generation vor mir meist kam. Wer früher mit 50 in seinem Job anerkannt und etabliert war, konnte davon ausgehen, diese Stelle bis zu Rente behalten zu können. Das ist vorbei. Aber die positiven Aspekte der neuen Freiheit überwiegen. Die Kinder stehen auf eigenen Beinen. Man ist körperlich fit. Viele Wege stehen offen. Im Beruf hat man Bestätigung erfahren, weiß, dass man etwas kann, und dass man damit vielleicht auch in anderen Kontexten bestehen würde. Mit meinem Alter bin ich sehr glücklich. Ich möchte nicht 40 sein. Ich habe viel gelernt, leben bedeutet Lernen und hoffentlich auch Wachsen. Ich freue mich auf das, was kommt.
 
MF:
Wird sich für Sie mit Ihrem 50. Geburtstag etwas ändern?
 
Matthias Roth:
Nein, das ist kein magischer Tag. Ich mache mir freilich Gedanken, etwa, dass mit 50 weniger Lebenszeit vor mir als hinter mir liegt. Das führt zu einem bewussteren Leben. Früher ging ich Dinge mit größerer Naivität an. Indem ich jetzt mehr reflektiere, empfinde ich eine neue Freiheit, wie ich den Rest meines Lebens verbringe. Ich sehe neue reizvolle Möglichkeiten, gerade mit der Erfahrung im Rücken.
Gewisse Einschränkungen, die kommen, führen dazu, das, was man kann, mehr zu schätzen als das, was man nicht mehr kann. Und zur Erkenntnis, dass nicht alles perfekt sein muss. Man muss auch annehmen, dass Probleme dazugehören, dass man nicht mehr unverwüstlich ist. Man lernt scheinbare Kleinigkeiten zu schätzen: Für mich war es, nach einer Erkrankung, ein tiefes Glücksgefühl, wieder Fußball spielen zu können.
 
MF:
Welche Vorsätze, Pläne, Träume haben Sie?
 
Matthias Roth:
Keine konkreten, mehr allgemeine. Ich will offen bleiben, offener werden für Impulse. Mit der Sicherheit, die ich mit 50 gewonnen habe, will ich Themen angehen, zu denen ich vorher eher Distanz genommen habe. Wichtig ist mir, bereit zu sein für Veränderung. Um es mit Cicero zu sagen: „Fang nie an aufzuhören, hör nie auf anzufangen.“ Ich lasse die Zukunft auf mich zukommen, lasse sie geschehen – es wird schon kommen, wie es kommen soll.
 
MF:
Gilt dies auch für den späteren Ruhestand?
 
Matthias Roth:
Davor habe ich keine Angst. Es wäre ein Glück für mich, wieder mehr malen zu können, ich liebe das Wandern und bin fasziniert von der Antike, in der sich uns ganze Kosmen erschließen. Ich habe gerade in den letzten Wochen Seneca wiederentdeckt. Es ist heute noch hochmodern, was die Antike uns zu sagen hat. In der Schule hatte ich das noch nicht ganz begriffen.
 
MF:
Haben Sie Vorbilder?
 
Matthias Roth:
Ich will meinen eigenen Weg gehen. Aber natürlich gibt es Figuren, die ich sehr schätze, gerade aus der Antike: Seneca z.B. und Marc Aurel. Menschen mit konkreten Aufgaben, die sie aber in Verbindung mit einer höheren Idee und mit Nähe zu den Menschen erfüllten. Nicht die eigene Macht, sondern die Nähe zu den Menschen und deren Unterstützung war für sie wichtig.
Ich mag das Kino sehr gern, und mein Lieblingsregisseur und auch eine Art Vorbild ist François Truffaut. Er führte den französischen Film mit seiner Darstellung von Menschen, von einfachen Menschen (wie im Antoine-Doinel-Zyklus), aus der Erstarrung heraus. Truffaut war den Menschen, besonders den Kindern nah. Es gibt wenige Regisseure, die so schön Kinder darstellen konnten. Ich schätze die Grundhaltung von Menschen, die Menschen zugewandt sind.
 
MF:
Mit diesem Statement haben wir einen schönen Schlusspunkt für das Interview. Herr Roth, wir danken Ihnen für das Gespräch.
 


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